Quelle: e-health-com.de – Auf dem Weg zu einer datengetriebenen medizinischen Versorgung hat die Deutsche Diabetes Gesellschaft den digitalen Diabetesdatensatz zur Priorität der Fachgesellschaft erklärt und will bald mit einer elektronischen Diabetesakte an die Telematikinfrastruktur andocken. Prof. Dirk ­Müller-Wieland und Manuel Ickrath von der Kommission Digitalisierung der DDG erläutern Pläne und Strategie.

Wie hat sich die Diabetesversorgung in Deutschland in den bisherigen Corona-Monaten geschlagen?
Müller-Wieland: Diabetes wurde ja sehr schnell als Hochrisikoerkrankung für COVID-19 ausgerufen. Das relativiert sich etwas, wenn man sich die Daten genauer ansieht. Wir gehen, Stand heute, davon aus, dass es für die Gesamtgruppe der Diabetespatienten eher kein erhöhtes Risiko für die Infektion gibt, aber möglicherweise hat die Qualität der Stoffwechseleinstellung eine Bedeutung für den klini-schen Verlauf. Wir müssen aber auch so bescheiden sein, zu sagen, dass wir ständig dazulernen. Was die konkrete Versorgung angeht, müssen wir trennen zwischen Krankenhaussektor und niedergelassenem Bereich. Insgesamt gab es schon eine große Zurückhaltung der Bevölkerung, was Arztbesuche angeht. Welche Kollateralschäden im weitesten Sinne dies zur Folge hatte, muss sorgfältig untersucht werden. In jedem Fall ist ein wichtiges Anliegen der DDG und vieler anderer Fachgesellschaften, mit positiver Kommunikation wieder Vertrauen zu schaffen. Krankenhäuser und Arztpraxen sind in der Corona-Krise durch gutes Management und Umorganisation relativ
sichere Bereiche geworden, verglichen mit anderen Orten.

Inwieweit hat die Digitalisierung bei der Bewältigung der Corona-Krise schon konkret geholfen?
Müller-Wieland: Digitale Versorgungsangebote inklusive telemedizinischer Angebote haben bei der Aufrechterhaltung der Versorgung geholfen. Da ist schon eine breite Wahrnehmung, würde ich sagen. Viele Ärzte haben die Erfahrung gemacht, dass Telemedizin nicht irgendwie kompliziert ist, sondern geht. Geholfen hat sicher, dass es bei den Industrieangeboten durch Corona einen deutlichen qualitativen Push gab. Insgesamt ist das jetzt eine gute Ausgangssituation für die Dinge, die wir in Angriff nehmen wollen, nämlich eine „echte“ Digitalisierung im Sinne einer Sammlung und Auswertung von Versorgungsdaten und einer patientenorientierten digitalen Transformation der Diabetesversorgung.


Wir haben in Deutschland rund 7 Millionen Typ-2-Diabetes- und knapp 400 000 Typ-1-Diabetespatienten. Wie ­digital ist die Versorgung dieser Patienten Stand heute schon?

Müller-Wieland: Patienten mit Typ-1-Diabetes sind fast alle strukturiert und digital an eine Schwerpunktpraxis angebunden. Diese Patienten haben ihre kontinuierliche Glukosemessung, ihre Auswertesysteme, ihre KI-unterstützte Insulinapplikation. Beim Typ-2-Diabetes hängen wir mit der Digitalisierung dagegen stark hinterher, aber das ist natürlich auch eine sehr heterogene Gruppe. Zumindest bei den jüngeren Betroffenen nimmt das Glukosemonitoring zu. Das spiegelt sich auch in der Ausstattung der Praxen: Schwerpunktpraxen, die Typ-1-Patienten versorgen, müssen sich zu einem gewissen Grad mit dem Thema auseinandersetzen. Beim reinen Typ-2-Diabetes hängt es sowohl bei den Schwerpunktpraxen als auch bei den zahlreichen Hausärzten stark davon ab, wie viel Druck vom Patienten kommt.

Ickrath: Wenn Sie heute um 17 Uhr den Fernseher anschalten, sehen Sie Fernsehwerbung der beiden Marktführer bei der kontinuierlichen Glukosemessung. Das illustriert die Dynamik. Von Ärzten wird das übrigens durchaus kritisch gesehen, weil die Indikation quasi durch den Druck der Straße gestellt wird. Es hat aber auch positive Seiten, weil viele Patienten auf diese Weise mit den innovativen Technologien bekannt gemacht werden. Was die Ärzte angeht: Es ist schon vor allem die Generation 50 plus, die sich schwertut. Es gibt Schwerpunktpraxen, die sagen, sie seien digitalisiert, arbeiten aber nur mit ein oder zwei Softwareprogrammen und lehnen alles andere ab. Das Gleiche gilt übrigens für die Diabetesberaterinnen, die im Durchschnitt auch über 50 Jahre alt sind. In dieser Generation hören wir häufig noch die Frage: „Was fangen wir mit dieser Datenflut an?“ Dass dadurch neue Analysemöglichkeiten entstehen, wird dann nicht gesehen.

Wie viele Programme für das Glukosemanagement gibt es in einer gut digitalisierten Praxis heute?
Ickrath: Es gibt im Augenblick circa fünf Programme, die als wesentliche Marktteilnehmer anzusehen sind. Es kommen neue Lösungen, die deutlich interoperabler sind.

Die DDG hat schon 2017 einen Code of Conduct zur Digitalisierung vorgelegt. Warum sollte sich eine Fachgesellschaft mit dem Thema auseinandersetzen? Können Sie sich nicht einfach um die Leitlinien kümmern und gut ist?
Müller-Wieland: Eine Frage, die wir uns auch gestellt haben, und die ich auch häufiger mit dem folgenden Unterton höre: „Wenn das jetzt jede Fachgesellschaft machen würde, wo kämen wir denn da hin?“ Ich antworte dann immer: „Wäre doch super.“ Im Ernst, natürlich muss sich eine Fachgesellschaft selbstreflektierend fragen, was die eigene Legitimation oder der Mehrwert ist, den wir kompetenzbasiert glauben einbringen zu können. Es geht uns darum, wie sich die Versorgung durch die neuen Möglichkeiten gestalten lässt.

Ickrath: Ich möchte noch die gesellschaftspolitische Verantwortung einer Fachgesellschaft ergänzen. Die Digitalisierung bietet ja auch neue Möglichkeiten, Leitlinien und damit bestmögliche Versorgung in die Breite zu bringen. Auch dafür, nicht nur für die Formulierung der Standards, fühlen wir uns als Fachgesellschaft zuständig. Wir wollen die digitale Transformation konkretisieren, indem wir analoge in digitale Leitlinien umwandeln. Und wenn es darum geht, Leitlinienwissen und Versorgung zusammenzubringen, sind wir sehr schnell beim Thema der elektronischen Diabetesakte.

Die elektronische Diabetesakte hat die DDG zuletzt viel beschäftigt. Sie haben da ein paar Schleifen gedreht. Welche Lektionen haben Sie dabei gelernt?
Ickrath: Eine wichtige Erfahrung ist sicher, dass wir nicht im luftleeren Raum agieren, sondern uns an der Politik orientieren müssen. Da hat sich in den zurückliegenden Jahren einiges durch die richtigen Entscheidungen des BMG geändert, was dann Auswirkungen auf unsere Strategie hatte. Ich denke, es war gut, dass wir uns etwas Zeit gelassen und zunächst sondiert und eingeordnet haben, um dann mit den richtigen Partnern loszulegen.

Müller-Wieland: Ich würde gern betonen, dass das Grundkonzept der elektronischen Diabetesakte, der eDA, gleichgeblieben ist: Wir wollten und wollen eine Struktur, mit deren Hilfe Daten für die Versorgung und für die Forschung zur Verfügung stehen, wenn der Patient das will. Ich halte das nicht nur für individualmedizinisch sinnvoll, sondern auch für ethisch und gesellschaftspolitisch geboten. Wir sind ein solidarisch finanziertes Gesundheitssystem, und da sollte es einen Datenpool geben, der es uns ermöglicht, die beste Medizin zu gestalten.

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