Quelle: e-health-com.de – Nach dem Vorbild der digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) will die Politik mit dem Digitale-Versorgung-und-Pflege-Modernisierungs-Gesetz (DVPMG) digitale Pflegeanwendungen (DiPA) auf den Weg bringen. Hersteller- und anwenderseitig hat sich jetzt unter Koordination des Fachverbands Informationstechnologie in Sozialwirtschaft und Sozialverwaltung e.V. (FINSOZ) die Allianz für Digitale Pflegeanwendungen (SVDiPA) gegründet. Was sind ihre Ziele, und wie kann der „DiPA-Prozess“ künftig konkret aussehen?
Was sind mögliche bzw. attraktive Einsatzszenarien für DiPA?
Hendrik Dohmeyer: Das Bundesgesundheitsministerium definiert das Anwendungsspektrum im Kabinettsentwurf in zwei Metaebenen: „Neben Anwendungen zur Organisation und Bewältigung des pflegerischen Alltags unterfallen dem neuen Leistungsanspruch auch Produkte, die zur Bewältigung besonderer pflegerischer Situationen, etwa im Bereich der Erhaltung der Mobilität oder bei Demenz, eingesetzt werden können.“ Es folgt damit der grundsätzlichen Struktur der DiGA, wo „positiver Versorgungseffekt“ entweder aus dem Bereich des medizinischen Nutzens oder aus dem Bereich der patientenrelevanten Verfahrens- und Strukturverbesserungen verlangt werden. Für die erste Ebene der organisatorischen und administrativen Unterstützung sind Anwendungen denkbar, die den Familien z. B. bei der Antragstellung von Leistungen der Pflegeversicherung und anderen sozialen Trägern helfen. Auch bei der Planung und Kontrolle der finanziellen Leistungsansprüche sind digitale Helfer denkbar, die die Selbstständigkeit der Pflegebedürftigen festigen und Angehörige entlasten können. Auch bei der kontinuierlichen Einschätzung der Entwicklung der Pflegebedürftigkeit kann eine digitale Dokumentation eine Strukturverbesserung bei der Pflege ermöglichen. Anwendungen, die eine Distanz-überbrückende Kommunikation zwischen z. B. Pflegeberater:innen und den Familien ermöglichen, könnten als Telekommunikationslösungen Einzug ins neue Verzeichnis finden. Für die zweite Ebene des pflegerischen Nutzens wären Anwendungen z. B. für die Sturzprophylaxe und als Gedächtnistrainer im kognitiven Segment denkbare Kandidaten für das neue DiPA-Register.
Thomas Eisenreich: Sehr einfach formuliert: Die DiPA muss dem Menschen mit Pflegebedarf und deren sorgenden und pflegenden Angehörigen wirklich nutzen. Sie darf keine Selbsterfüllung der Entwickler sein. Dies ist die Lehre, die wir aus dem Hype um AAL-Lösungen gezogen haben; der Fehler sollte sich nicht wiederholen. Der Nutzen selbst wird sich daran messen lassen müssen, dass eine selbstständige Lebensführung beibehalten werden kann oder sogar verbessert ermöglicht wird. Daher ist der Ansatz, die DiPA im ambulanten Kontext zu verorten, genau richtig. Damit das Angebot angenommen und auch genutzt wird, kommt es jedoch nicht nur auf den pflegerischen Nutzen und die Usability an: Die Forschung zeigt, dass Gamification ein wesentlicher Aspekt ist, der die Nutzung eigentlich langweiliger Anwendungen im medizinischen und pflegerischen Kontext deutlich steigert. Genau solche Anreizsysteme sollten bei der Zulassung auch berücksichtigt werden.
Die Politik hat die DiPA stark nach dem Beispiel der DiGA modelliert. Inwiefern sehen Sie bei den DiPA politische, rechtliche und organisatorische Anforderungen, die anders sind als im DiGA-Prozess?
Hendrik Dohmeyer: Bei den DiPA haben wir es mit einer sehr starken Patientenzentrierung zu tun. Digitalisierung in der Pflegesituation muss jedoch eine vielschichtigere Zielgruppe berücksichtigen. Neben ambulanten Betreuungs- und Pflegediensten sind hier insbesondere die sorgenden und pflegenden Angehörigen zu berücksichtigen, die z.B. in mehr als 90 Prozent der Pflegesituationen primär die organisatorischen, administrativen Sorgeaufgaben leisten und verantworten. Der Gesetzgeber hat dies erkannt und sieht deshalb vor, dass „… auch solche Anwendungen, die schwerpunktmäßig von pflegenden Angehörigen zugunsten des Pflegebedürftigen verwendet werden sollen“ zum Leistungsanspruch dazugehören sollen.
Thomas Eisenreich: Wichtig ist und wird meiner Ansicht nach sein, dass die DiPA von Pflegefachkräften oder dem MDK bei der Begutachtung „verordnet“ werden kann. Nicht „einfach so“, sondern der individuellen Bedarfslage entsprechend. Damit kann eine niederschwellige Unterstützung ermöglicht werden, ohne den Umweg über einen Arzt zu gehen. Denn dieser kann regelmäßig die pflegerisch-betreuerischen Anforderungen überhaupt nicht bewerten. Zudem sind auch die in die Anwendungsbetreuung einzubeziehenden Personen sehr unterschiedlich: Anders als bei Medizinern und Therapeuten im medizinischen Bereich ist die Langzeitpflege von einem Profi-Laien-Mix geprägt, in dem die DiPA ihre Wirkung entfalten muss.
Was gefällt Ihnen an dem derzeitigen §78a im DVPMG-Entwurf, was fehlt Ihnen, und wo haben Sie Verbesserungsvorschläge?
Dietmar Wolff: Sehr zu begrüßen sind die bereits deutlich vorgezeichneten Prozesse zur Einführung sowie die klaren zeitlichen Vorgaben für Vergütungsabstimmung, Rahmenvereinbarung und Antragsbescheidung – das gibt den DiPA-Herstellern Planungssicherheit. Ebenso sind die durchgängig vorhandenen Eskalationsregeln positiv zu vermerken. Maßgeblich wird es auf die Inhalte der Rechtsverordnung nach Absatz (6) ankommen, da diese die Maßstäbe zur Zulassung definiert und damit der zentrale Leifaden für die DiPA-Hersteller sind. Insofern besteht heute noch eine gewisse fachliche Unsicherheit bei der Erstellung von DiPA.
Thomas Eisenreich: Ganz wesentlich wird es darauf ankommen, dass die Anwendungsunterstützung auskömmlich vergütet wird. Anders als eine digitale Anwendung, können Personalkosten nicht durch Skalierung gesenkt werden. Ein „Mehr“ an Unterstützung kostet bei einer gegebenenfalls notwendigen Anwendungsunterstützung vor Ort eben auch „direkt mehr“. Zwar können virtuelle Formate helfen, Personalkosten bezogen auf den Einzelfall zu senken, aber nicht in der Größenordnung, wie man das aus der Skalierung digitaler Angebote kennt. Findet aber keine Anwendungsbetreuung statt, und das zeigen viele Tests und Modellprojekte, werden digitale Anwendungen oftmals nicht oder nur unzureichend genutzt. Dann wird der gewünschte Outcome nicht erreicht, und wir haben eine Fehl-Allokation knapper Mittel der Pflegeversicherung. Dem wollen wir als SVDiPA-Allianz entgegenwirken.
Wie könnten konkret Nutzennachweise für DiPA aussehen bzw. welche Nutzendimensionen sind vorstellbar? Macht ein DiGA-analoger Fast Track Sinn?
Thordis Eckhardt: Von den konkreten Nutzennachweisen wird es in Zukunft abhängen, ob DiPA in den Kostenkatalog der Krankenkassen aufgenommen und erstattet werden. Die Nutzeneffekte stellen den Kern der DiPA dar; diese evident herauszuarbeiten, hat sich die SVDiPA-Allianz zur Aufgabe gesetzt – in Verbindung mit Forschung und operativer Anwendung.
Hendrik Dohmeyer: Wir werden bei einigen Lösungen Überschneidungen zu jenen DiGA haben, die sich auf der Ebene des pflegerischen Nutzens positionieren, z. B. Anwendungen für die Sturzprävention oder kognitive Trainings-Apps. Hier könnte es auch zu Doppellistungen kommen. Zu klären wird sein, ob hier auch unterschiedliche Nutzennachweise zu erbringen sind. Bei den Lösungen der „familienrelevanten Verfahrens- und Strukturverbesserungen“ in der Pflege könnten Anwenderbefragungen die positiven Versorgungseffekte für die ökonomischen, sozialen/ethischen und organisatorischen Aspekte aufzeigen.
Helmut Ristok: Das Fast-Track-Verfahren war bei der Einführung von DiGA hilfreich, um schnell erste Anwendungen an den Start zu bringen und damit Erfahrungen zu sammeln. Schnelle Innovation wurde hier gefördert – die Beurteilung des konkreten Nutzens nach hinten verlagert. Auf dieser Basis scheint es sich für die DiPA anzubieten, konkrete Kriterien für die Nutzenbewertung früher bereitzustellen, um die Entwicklung stärker zielgerichtet auszugestalten. Auf einen wenig zielgerichteten und unregulierten Fast-Track-Modus könnte so verzichtet werden.
Thomas Eisenreich: Wir müssen zwischen den Zielrichtungen der beiden Systeme „Gesundheitswesen“ und
„Altenhilfe“ unterscheiden: Das Gesundheitswesen zielt – vereinfacht – auf eine Wiederherstellung des Gesundheitszustands ab. Dagegen ist die Altenpflege darauf ausgerichtet, die Lebenssituation der Menschen in einer tendenziell sich verschlechternden Situation so gut wie möglich zu verbessern oder eine Verschlechterung abzumildern. Damit ist ein an einen Gesundheitszustand, dessen Verbesserung oder langfristigen Erhalt, gekoppelter Nutzen bei DiPA kaum mehr möglich, anders als bei den DiGA. Daher muss der Nutzen daran orientiert werden, dass die konkrete Lebenssituation erhalten werden kann oder Risiken in der selbstständigen Lebensführung reduziert werden. Damit bedarf es keines Fast Tracks, sondern eines, z. B. mittels Punkten zu bewertenden, Nutzenkataloges. Alle DiPA sollten nach 24 Monaten mittels Nutzer-Evaluation hinsichtlich des weiteren Verbleibs im Pflegehilfsmittelkatalog bewertet werden. In die Nutzer-Evaluation sollten auch die Anwenderfreundlichkeit und die Anwendungsfrequenz einfließen.
Der SVDiPA positioniert sich als Verhandlungspartner für den Spitzenverband der Pflegekassen. Warum macht es Sinn, dass sich IT-Industrie und Anwender in einem solchen Verband zusammentun?
Thordis Eckhardt: Digitale Pflegeanwendungen können einen zielgerichteten Nutzen entfalten, wenn sie im Vorfeld bereits nutzenorientiert entwickelt und zielgerichtet auf die Bedürfnisse der Pflegebedürftigen – und ihrer unterstützenden Personen – ausgerichtet sind. Hierzu müssen sämtliche technologischen, pflegerischen und Unterstützungsanforderungen bekannt sein; das kann kein einzelner Verband und auch kein spezialisiertes Unternehmen allein leisten. Daher haben wir Know-how, Kompetenzen und Akteure in der SVDiPA-Allianz vereint, die genau diese Wertschöpfungskette abbilden und gleichzeitig die Nutzer- und Unterstützergruppen in unterschiedlichen Pflege- und Betreuungs-Settings adressieren – und vor allem auch erreichen. Wir bilden für die DiPA ein ganzheitliches Nutzen-Dreieck aus Mensch, Innovation und Care- und Case Management ab. Das Spektrum reicht von den Apps für Pflegebedürftige und deren Angehörige über die Anbindung an die IT-Systeme der Pflege- und Betreuungs-Dienstleister bis zur persönlichen, telefonischen, virtuell-digitalen Betreuung durch persönliche Ansprechpartner und Betreuungs-Dienstleister.
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